Zarische Truppen, Krasnaja Poljana, 21.5.1864

Zarische Truppen, Krasnaja Poljana, 21.5.1864

Donnerstag, 19. September 2013

Trotz Wahlkampf-Hektik: Vorläufige Antwort von Cem Özdemir

Veysel Özcan, Büroleiter von Cem Özdemir, hat mir heute die untenstehende Antwort von Cem Özdemir zukommen lassen - trotz Wahlkampfhektik und einer verspäteten Anfrage meinerseits (andere von mir angefragte Bundestagskandidaten hatten ein Standardschreiben erhalten und waren damit früher informiert). Hiermit also meinen herzlichen Dank an Cem Özdemir wie auch an Veysel Özcan!



"Sehr geehrte Frau Kreiten,


ich danke Ihnen für Ihre Nachricht zu diesem wichtigen Thema. Ich bitte um Ihr Verständnis,

dass ich derzeit angesichts des Wahlkampfs und meines dichten Kalenders leider nicht die

Zeit finde, die recht umfassenden Fragen zu beantworten. Ich schicke Ihnen aber gerne mein

Vorwort für das Buch von Manfred Quiring. Sie können es gerne auf Ihrer Seite unter Angabe der

Quelle veröffentlichen, der Verlag ist damit einverstanden.

Mit freundlichen Grüßen

Cem Özdemir

+++

Manfred Quiring: „Der Vergessene Völkermord. Sotschi und die Tragödie der Tscherkessen. Mit

einem Vorwort von Cem Özdemir.“ Berlin: Christoph Links Verlag GmbH, 2013.


Vorwort


Cem Özdemir

Dieses Buch bringt nicht nur vielen Leserinnen und Lesern eine wohl fremde Kultur näher, sondern auch dem Autor dieses Vorworts. Denn obwohl mein Vater ein Tscherkesse aus der Türkei ist, hatte ich selbst lange Zeit kaum Kenntnisse über das Volk und die Kultur seiner Vorfahren. Mein Wissen beschränkte sich zunächst auf die üblichen Klischees: Die Reit- und Kampfkunst der tscherkessischen Männer oder die Schönheit der tscherkessischen Frauen, von denen viele im Kaukasus entführt und an den Sultanshof verschleppt wurden. Auch war mir nicht bekannt, dass Tscherkessen nicht nur in der Türkei, sondern auch in Jordanien, Syrien, ja sogar in Israel leben.
Für die Tscherkessen in aller Welt ist der 21. Mai ein Tag der traurigen Erinnerung an die Vertreibung im Jahre 1864. Es ist ein Tag, der an all das Leid erinnert, das nach der Niederlage gegen die Russen in der kaukasischen Urheimat begann. Aber er erinnert sie auch daran, dass es Ihnen bis zum heutigen Tag gelungen ist, die Erinnerung an ihre Kultur und Geschichte zu bewahren. Auch dieses Buch trägt maßgeblich dazu bei.
Zahlreiche Tscherkessen, die nach ihrer Vertreibung später Türken wurden, sind – so wie mein Vater – durch die Anwerbung von Gastarbeitern in den 1960er Jahren nach Deutschland gekommen. Für viele war gerade die Demokratie und Vielfalt in Deutschland Anlass, sich öffentlich als Minderheit zu begreifen und ihre Kultur zu zelebrieren. Daher finden sich immer häufiger nordkaukasische Kulturvereine oder tscherkessische Vereine in Deutschland. Ihr Anliegen ist es, ihre Kultur und Sprache an die eigenen Kinder, aber auch ihrer neuen Heimat zu vermitteln. Tscherkessen wurden in der Diaspora und in all den Ländern, in denen sie Schutz, Aufnahme und eine neue Heimat gefunden haben, schnell loyale Bürger, ohne dabei ihre Herkunft und Kultur zu vergessen.
In der Türkei, einem Land, in dem es vor einiger Zeit offiziell keine kurdische Sprache und Kultur gab und das sich bis heute mit seiner kulturellen, religiösen und ethnischen Vielfalt schwer tut, wurden lange Zeit alle verallgemeinernd als Tscherkessen bezeichnet, die aus dem Kaukasus stammen. Je tiefer man jedoch in die Materie eindringt, desto deutlicher wird, dass die Völker des Kaukasus, und speziell die zahlreichen Ethnien des Nordkaukasus viele unterschiedliche Sprachen sprechen. Sie sind vor allem durch das Kaukasusgebirge und die Erinnerung an das gemeinsame Leid miteinander verbunden. Die Tscherkessen, die sich selbst „adyge“ nennen, wollen auch in Deutschland nicht nur durch ihre beeindruckenden Folkloretänze wahrgenommen werden, sondern auch als eine bedrohte, alte Kultur, die nur überleben kann, wenn sie unterstützt wird und die Verbindung zur Urheimat im Kaukasus nicht abreißt.
Damit dies auch für die Zukunft gelingt, müssen Tscherkessen sich gemeinsam mit anderen für den Erhalt der einzigartigen Natur des Kaukasus einsetzen, gerade im Vorfeld und während der Olympischen Spiele 2014 in Russland. Wer einmal, so wie ich mit meinem Vater vor einigen Jahren, die Berge des Kaukasus erlebt hat und durch unberührte Wälder wandern durfte, wird verstehen, warum die Tscherkessen Angst davor haben, dass Geldgier und mafiöse Strukturen im heutigen Russland ihre Heimat bedrohen.
Da die Tscherkessen heute über viele Länder der Welt verteilt sind und sie somit keine gemeinsame Sprache mehr verbindet, wird ihre Kultur oft auf die berühmten Tänze und die legendären tscherkessischen Hochzeiten reduziert. Es ist daher eine anspruchsvolle Aufgabe, die Adygejer dem Vergessen zu entreißen und ihre gesamte Geschichte und Kultur international bekannt zu machen. Dieses Buch hilft dabei, und ich hoffe, dass es nicht nur unter Tscherkessen viele Leser findet.

Berlin, im August 2013"